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Die Machtüberlassung

Am 25. September 2022 hat das rechte Wahlbündnis wie erwartet die Wahlen in Italien gewonnen. Kommen nun neofaschistische Kräfte in die Regierung? Ja. Ist Italien nun also ein neofaschistisches Land? Nein. Was also ist los im Beal Paese? Hier der Versuch, den Wahlausgang einzuordnen, die politische Verantwortung dafür festzumachen und die tiefer liegenden Ursachen aufzuspüren.

Nach dem offiziellen Wahlergebnis erreicht das rechte Wahlbündnis rund 44% der Stimmen. Das sind 8% mehr als 2018 und ist somit ein klarer Rechtsrutsch. Allerdings liegt das Resultat unter den 47% von 2008 und ist also schwächer als beim letzen Wahlsieg des Mitte-Rechts-Lagers. Schließlich hat eine ebenso klare absolute Mehrheit von 56% nicht rechts gewählt. Ist also alles gar nicht so schlimm? Doch.

Die Mitte wird rechts

Das erste Problem liegt in der Umschichtung innerhalb der rechten Allianz. Giorgia Meloni hat den Wähleranteil ihrer Fratelli d’Italia gegenüber 2018 von 4,3 auf 26% versechsfacht, Matteo Salvini den der Lega hingegen von 17,5 auf 8,8% dagegen halbiert, und Silvio Berlusconis Forza Italia rutscht von 14,2 auf 8,2% deutlich ab.[1]
Die Verschiebung nach rechts ist innerhalb des Lagers also fast doppelt so hoch als die Verschiebung zum rechten Lager hin. Beides geht allein auf das Konto der Fratelli, die ihre beiden Bündnispartner zusammen um 9 Prozentprozentpunkte distanzieren und auch insgesamt stärkste Partei sind.

Auf den ersten Blick hat der sensationelle Zuwachs der Fratelli einen einfachen Grund: Sie gehören als einzige Partei seit 2011 keiner Regierung an. Dadurch genießen sie eine Art Bonus der Unschuld, des Unverbrauchten und Neuen, ganz ähnlich wie die Cinque Stelle, die bei ihrem Debüt auf nationaler Ebene 2013 aus dem Nichts heraus vergleichbare 25% erzielt haben. Dass fehlende Erfahrung bei einem Teil der Wählerschaft offenbar als Tugend gilt, hat natürlich mit Politikversagen und Skandalen zu tun, hängt aber auch mit dem jahrelangen Sperrfeuer gegen die Politikerkaste[2] und der daraus folgenden Antipolitik zusammen. Zusammen bilden sie den Nährboden für zunehmende Skepsis gegenüber der liberalen Demokratie und wachsende Zustimmung zu politischen Systemen mit autoritären Tendenzen.

Denn viele, wahrscheinlich sogar die meisten, haben die Fratelli nicht einfach deshalb gewählt, weil sie noch nicht von der Macht korrumpiert scheinen, sondern weil sie ihre ideologischen Botschaften teilen, die noch radikaler sind als die der Lega und weit konservativer als die von Forza Italia. Mit den Fratelli als dominantem Zugpferd kann man deshalb nicht mehr von einer Mitte-rechts-, sondern muss von einer rein rechten Allianz sprechen, die in Italien nun an die Regierung kommt.

Die Partei der Nichtwählenden

Das zweite Problem wird mit dem Blick auf die Wahlbeteiligung sichtbar, die gegenüber 2018 um ganze 9% auf nur noch 64% gesunken ist. Mit 36% sind somit die Nichtwählenden eigentlich die stärkste Partei und jedenfalls deutlich stärker als die Fratelli. Deren Anteil unter den Wahlberechtigten schrumpft auf 16,6% zusammen, das Rechtsbündnis insgesamt erreicht mit 28,8% nicht einmal einen Drittel. Davon, dass „die Italiener“ mehrheitlich rechts oder gar faschistisch gewählt hätten, kann also keine Rede sein.

Die dramatisch sinkende Wahlbeteiligung wird zwar allenthalben beklagt, aber nur wenige scheinen dies als echtes Problem für die Demokratie wahr- und ernst zu nehmen. Michael Braun weist etwa darauf hin, dass die Wahlbeteiligung in Süditalien signifikant geringer ausfällt als in Nord- und Mittelitalien und gibt dafür mehrere valable Gründe an. Allerdings ist im Süden das Misstrauen gegen Wahlen grundsätzlicherer Natur und viel tiefer in der Geschichte Italiens verwurzelt.

In einer berühmten Szene des Gattopardo von Giuseppe Tomasi di Lampedusa erklärt der einfache Jagdbegleiter Ciccio Tumeo dem Fürsten Don Fabrizio Salina, warum er dem neuen Staat mit Argwohn begegnet: Don Calogero Sedara, Bürgermeister von Donnafugata, hat feierlich verkündet, seine Gemeinde habe mit 512 zu Null für den Anschluss Siziliens an das Königreich Italien gestimmt – doch Ciccio weiß von mindestens einer Gegenstimme: „Ich hab’ Schwarz gesagt, und die lassen mich Weiß sagen! Für einmal, wo ich sagen konnt’, was ich dachte, erklärt mich dieser Blutsauger von einem Sedara für null und nichtig, tut so, als hätt’s mich nie gegeben […].“[3]

Die Minderheit wird Mehrheit

Natürlich kommt derart plumper Wahlbetrug nach belarussischer Art bei der Auszählung der Stimmen in Italien kaum mehr vor, und er ist auch gar nicht nötig. Das dritte Problem besteht nämlich in einem Wahlsystem, das selbst eine erhebliche Verzerrung des Resultats bewirkt. Das Rechtsbündnis gewinnt nämlich mit knapp 44% Wähleranteil fast 60% der Sitze im Parlament. Aus einer zwar starken, aber immer noch deutlichen Minderheit in der Wählerschaft wird also eine eklatante absolute Mehrheit in deren Repräsentation. Wie kann das sein?

Drei Gründe tragen zu dieser massiven Deformation von immerhin 16% massgeblich bei: Erstens das geltende Wahlgesetz, zweitens die Verkleinerung des Parlaments und drittens die fehlende Einheit der demokratischen Kräfte. Diese werden mit bloß 40 Prozent der Sitze im Parlament vertreten sein, obwohl sie zusammen auf einen Wähleranteil von 49% kommen und somit 5% mehr Stimmen erzielt haben als das rechte Lager (die restlichen 7% entfallen auf Splitterparteien). Dieses trägt trotzdem den Sieg davon, weil Fratelli d’Italia, Lega und Forza Italia sich in einem Wahlbündnis zusammengeschlossen haben, während das vom Partito Democratico angeführte Mitte-Links-Lager, die Cinque Stelle und die Allianz von Azione und Italia Viva getrennt angetreten sind.

Allianzen aufkündigen

Für diese Spaltung tragen die Parteichefs die Verantwortung, angefangen bei Enrico Letta. Er hat die drei Jahre lang mühsam aufgebaute Allianz mit den Cinque Stelle über Nacht beerdigt, weil er deren Chef Giuseppe Conte für den Sturz Mario Draghis verantwortlich macht. Stattdessen hat er ein Bündnis mit der Partei Azione des früheren Wirtschaftsministers Carlo Calenda geschlossen, das dieser aber schon kurz darauf wegen der Erweiterung um links-grüne Kräfte wieder aufgekündigt hat. Danach hat Calenda mit der Partei Italia Viva des ehemaligen Ministerpräsidenten und PD-Chefs Matteo Renzi einen dritten, liberalen Pol gebildet, der mit 7,8% zwar erwartungsgemäß abgeschnitten hat, aber im Parlament nicht die erhoffte Rolle als Zünglein an der Waage zwischen linkem und rechtem Block spielen kann. Mit 26% liegt die PD-geführte Mitte-Links-Koalition gleichauf mit den Fratelli d’Italia und weit unter den Prognosen, weil vor allem das erwartete Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Meloni und Letta ausgeblieben ist. Die Demokratische Partei bleibt mit enttäuschenden 19% (wie 2018) ganze 7% hinter den Neofaschisten zurück – ein Debakel, das sich durch das überraschend gute Ergebnis der Cinque Stelle nur bestätigt. Zwar verlieren die Grillini mit 17,3% mehr als die Hälfte ihres Wähleranteils von 2018, schneiden aber deutlich besser ab als in den letzten Umfragen (unter 10%) und sind mit 15,5% dem PD fast auf den Fersen. Hätten sie Draghi zuletzt das Vertrauen aus taktischen Gründen doch noch ausgesprochen, wäre der Bruch mit dem Partito Democratico womöglich vermieden worden. Die Allianz hätte den Rechten ernsthaft Paroli bieten und sie zusammen mit den Liberalen sogar klar schlagen können.

Der scharfe Gegensatz zwischen schwarzem Putin und rotem Europa wäre nur mit einem breiten Bündnis gegen rechts glaubwürdig gewesen, nicht aber für eine Partei, die selbst mit rechts regiert hat. [Bild: https://www.partitodemocratico.it]

Vor allem Enrico Lettas Bruch mit Giuseppe Conte erweist sich so im Rückblick als schwerer strategischer Fehler, der nicht nur nur auf einer groben arithmetischen Fehleinschätzung der eigenen Stärke beruht. Die Wahlkampagne des PD hat mit dem Aufruf „Wähle!“ zwischen „Mit Putin“ auf schwarzem und „Mit Europa“ auf rotem Hintergrund einen scharfen ideologischen Gegensatz präsentiert, der nur mit einem breiten Bündnis gegen rechts glaubwürdig gewesen wäre. So aber hat jedes Wahlplakat ungewollt daran erinnert, dass die Demokratische Partei seit 2013 fast ständig mit Teilen der plötzlich verfemten Rechten regiert und dabei vor allem Liberalisierungen vorangetrieben hat. Mit dem ostentativen Festhalten am liberalen Draghi hat Letta schließlich gleich selbst die zaghaften Versuche zunichte gemacht, den Partito Democratico wieder sozialer zu positionieren.

Das ist hingegen den Cinque Stelle gelungen. Nachdem rechtskonservative Europagegner die Bewegung verlassen haben, hat Giuseppe Conte den Grillini mit der kämpferischen Verteidigung des Bürgergelds und dem resoluten Widerstand gegen neue Öl- und Gasbohrungen im Mittelmeer ein erkennbar links-grünes Image verpasst. Doch unter der Oberfläche lauern Widersprüche, etwa beim Thema Migration, wo sich Conte seinerzeit wie Salvini als unbarmherziger Hardliner hervorgetan hat, oder mit der Antipolitik, die mit Beppe Grillo zurück ist und als populistische Verweigerungshaltung jedwede Zusammenarbeit mit anderen demokratischen Kräften erschwert. So hat Conte im Wahlkampf Letta viel heftiger attackiert als Meloni, die doch ständig gegen das Bürgergeld gewettert hat.

Neofaschisten salonfähig machen

Das Zerwürfnis hat den Liberalen einen bequemen Vorwand geliefert, sich ihrerseits jedweder Kooperation mit den Cinque Stelle und dem Partito Democratico zu verweigern. Der sonst so eitle Matteo Renzi hat sich im Wahlkampf kaum gezeigt und die Bühne Carlo Calenda überlassen. Dieser hat die Allianz seiner Azione mit Renzis Italia Viva als die einzig seriöse politische Kraft präsentiert, die an Draghi als Regierungschef und seiner Agenda festhalten will. Dumm nur, dass Supermario schon früh weder von seiner angeblichen Agenda noch von einem weiteren Mandat etwas hat wissen wollen. Ohne Kandidat und Koalitionspartner aber bleibt nur die Konzentration auf die eigene Kernkompetenz – das politische Gezwitscher. So kommentiert etwa Carlo Calenda allen Ernstes ein Video Giorgia Melonis, in dem sie Faschismusvorwürfe zu entkräften versucht, man solle dies doch zur Kenntnis nehmen. Für Matteo Renzi hingegen ist Meloni zwar eine Gefahr für die Staatskasse, aber nicht für die Demokratie.

Wirklich? „Ich träume von einer Nation, in der jene, die ihren Kopf lange Zeit beugen mussten, sagen können, was sie denken“, brüllt Sorella Giorgia bei ihren Wahlkampfauftritten vom Podium.[4] Wen sie damit meint, bleibt vage, aber immer mal wieder heben Fratelli-Anhänger den rechten Arm zum römischen Gruß, und im Parteilogo prangt die Flamme von Mussolinis Grab. Dabei geht es den Fratelli d’Italia und ihrer Führerin weder um radikalen Altfaschismus noch um geläuterten Postfaschismus, sondern um modernen Neofaschismus mit eindeutig rechtsextremer Programmatik. Indem man dies wie Calenda verharmlost oder gar wie Renzi seine Kollaboration zur Änderung der (antifaschistischen!) Verfassung anbietet, macht man die Feinde der Demokratie salonfähig.

Die Mehrheit ist relativ

Sich selbst überschätzen, den Partnern verweigern, den Gegnern anbiedern: Jede der drei demokratischen Kräfte hat ihren eigenen Teil zum Triumph des rechten Lagers beigetragen. Conte, Letta, Calenda und Renzi haben so die Macht ohne Not den Rechten überlassen, während Meloni, Salvini und Berlusconi ihre persönlichen Animositäten und ideologischen Differenzen dem gemeinsamen Machtstreben untergeordnet haben. Dass mit Giorgia Meloni nun zum ersten Mal in Europa eine Neofaschistin Regierungschefin wird, liegt jedoch nicht nur an der Geschlossenheit des rechten Lagers und der Uneinigkeit der demokratischen Kräfte. Diese decken ein viel breiteres politisches Spektrum ab als die drei Parteien der Rechten. Sie sind sich in zentralen Fragen ziemlich einig, die Positionen von Liberalen, Linksdemokraten und Grillini dagegen oft wechselseitig inkompatibel. Dass sich Parteien, die ideologische Grundsätze trennen, hätten verbünden müssen, um die Rechte zu schlagen, liegt am seit 2017 geltenden Wahlgesetz. Es sieht vor, dass 63% der Parlamentssitze im Proporz- und 37% im Majorzverfahren nach angelsächsischem Muster vergeben werden („first pass the post“). Letzteres bedeutet konkret, dass die Kandidierenden mit den meisten Stimmen ihre Einer-Wahlkreise gewinnen. Anders als beispielsweise in Frankreich ist dafür keine absolute Mehrheit oder eine Stichwahl erforderlich.

In politischen Systemen mit zwei großen Parteien nahe an der absoluten Mehrheit, wie in den USA (Republikaner und Demokraten) oder Großbritannien (Konservative und Labour) mag dieses Verfahren effizienter sein als der Proporz. In Systemen mit mehreren Parteien wie in Italien (6 mittlere und zahlreiche kleine) aber führt es zu sehr unterschiedlichen und teilweise fragwürdigen Resultaten, die den Wählerwillen zuweilen sogar auf den Kopf stellen. So gewinnt etwa das rechte Bündnis die Einer-Wahlkreise in seinen traditionen Hochburgen Norditaliens meist mit klaren absoluten Mehrheiten von bis zu 60%. Im Rest des Landes erobert es die Einer-Wahlkreise aber oft nur mit relativen Mehrheiten von um die 40% und manchmal sehr knapp. So zieht beispielsweise aus Foggia eine rechte Kandidatin in den Senat ein, die mit 37,89% nur hauchdünn vor der Kandidatin der Cinque Stelle mit 37,32% den Wahlkreis gewinnt. Enge Rennen gehen manchmal auch umgekehrt aus und sind an sich nicht das Problem. In vielen Fällen hätte zwar ein Bündnis der Zweit- und Drittplatzierten (Foggia: 17,43%) klar gesiegt, so aber obsiegt eine Minderheit über die Mehrheit. Das führt die Idee des Majorzverfahrens ad absurdum und verfälscht vor allem den Wählerwillen.

Potenziell verfassungswidrig: Das Wahlgesetz Rosatellum

Dieser wird durch zwei weitere Regelungen im Wahlgesetz erheblich eingeschränkt. Erstens zählt die Stimme für einen Kandidaten im Majorz automatisch auch für dessen Parteienbündnis im Proporz und umgekehrt. Wenn man trotzdem den Namen des Mehrheitskandidaten von Bündnis A und eine Partei von Bündnis B ankreuzt, ist die Stimme ungültig. Zweitens sind die Parteilisten bei der Proporzwahl blockiert. Man kann also keine Präferenzen für einzelne der maximal 4 Kandidierenden pro Partei und Wahlkreis abgeben. Das Verfassungsgericht hat blockierte Listen schon 2014 für verfassungswidrig erklärt, wenn sie die Wahlfreiheit einengen, und Mehrheitsprämien, „wenn sie die relative Mehrheit der Stimmen in eine auch nur bescheidene absolute Mehrheit der Sitze verwandeln“.[5] Es ist deshalb gut möglich, dass neue Einsprachen, auch gegen den Automatismus zwischen Majorz und Proporz, auch diesmal die Unterstützung der Verfassungsrichter finden. Das Parlament müsste dann endlich ein verfassungskonformes Wahlgesetz ausarbeiten.

Ob dafür die Zeit bis zu den nächsten Wahlen reicht und ob die Parteien dazu überhaupt willens sind, steht auf einem ganz anderen Blatt. Eingebrockt hat das geltende Wahlgesetz nämlich die Demokratische Partei, genauer der damalige PD-Abgeordnete Ettore Rosato (daher der Übername Rosatellum). Rosato stammt aus Triest, wo er seine politische Karriere Mitte der 1980er-Jahre in den Reihen der Christdemokraten startet. Für den Partito Democratico wird er erstmals 2008 in die Camera gewählt und steigt 2015 zum Fraktionsvorsitzenden auf. Es ist die Zeit, in der Matteo Renzi als Partei- und Regierungschef den Ton angibt. 2019 zählt Rosato zu den Renziani, die sich vom PD abspalten, und ist seither Co-Präsident von Italia Viva.

Angesichts dieser Laufbahn vermuten manche Beobachter den wahren Zweck des Rosatellum in der Schwächung der Demokratischen Partei. Tatsächlich hat Rosato zuerst vorgeschlagen, die Hälfte der Parlamentssitze im Majorzverfahren zu vergeben. In diesem Fall wäre der Wahlsieg der Rechten wohl noch erdrückender ausgefallen, vielleicht hätte es sogar für die befürchtete Zweidrittelmehrheit gereicht. Diese ist erforderlich, damit das Parlament Verfassungsänderungen im Alleingang beschließen kann, ohne sie dem Volk zur Abstimmung vorlegen zu müssen. Ein Schelm, wer daran denkt, dass Renzi Ende 2016 mit seiner Verfassungsreform an der Urne gescheitert und als Regierungschef zurücktreten ist. Im Parlament hat sich im Herbst 2017 schließlich die entschärfte Version des Rosatellum mit 37% der Sitze im Majorz durchgesetzt.

Verfälschung bewusst in Kauf genommen

Als im Frühjahr 2018 erstmals nach dem neuen Verfahren gewählt wird, verblassen die Verzerrungen hinter dem Gesamtergebnis. Wieder einmal gibt es keine klare Mehrheit, sondern eine Art Patt zwischen Mitte-Rechts (37,0%), M5S (32,7%) und Mitte-Links (22,9%). Auch das Rosatellum kann also nicht für stabile Verhältnisse sorgen und verfehlt damit seinen eigentlichen Zweck. Beobachter fordern deshalb die Rückkehr zur reinen Proporzwahl, insbesondere um der verfassungsmäßigen Anforderung nach Gleichheit der Stimme Genüge zu tun (Art. 48). Doch sie werden vom Parlament ebenso ignoriert wie von den mit sich selbst beschäftigten Parteien. Die Grillini erheben als stärkste Kraft Anspruch auf die Macht und bilden die Regierung schließlich mit der Lega (17,4%), die ebenfalls machtwillig aus der Mitte-Rechts-Allianz ausschert. Mit der Demokratischen Partei (18,8%) wären zwar eine deutlichere Mehrheit im Parlament möglich und auch die programmatischen Übereinstimmungen größer gewesen, aber eben auch die Rivalitäten. Deshalb kann Matteo Renzi ein Zusammengehen mit den Cinque Stelle in der Rolle als Sparringpartner verhindern, obwohl er nach dem Wahldebakel nun auch den Hut als PD-Chef nehmen muss. Das Wahlverfahren aber wird auch danach von der Partei, die das Demokratische in Namen trägt, nicht als demokratisches Problem erkannt – obwohl es Mitte-Links benachteiligt (23% Stimmen, 19% Sitze), aber Mitte-Rechts (37% Stimmen, 42% Sitze) und Cinque Stelle (33% Stimmen, 37% Sitze) bevorteilt. Allerdings fallen die Verzerrungen 2018 mit 4-5% deutlich geringer aus und verwandeln auch keine Minderheit an Stimmen in eine Mehrheit der Sitze wie 2022 die 16% Verzerrung zugunsten der rechten Allianz. Die Gefahr ist also entweder übersehen, ignoriert – oder sogar bewusst in Kauf genommen worden.

Wir haben das Parlament geschrumpft

Von einem bloßen Übersehen kann spätestens seit der Referendumsabstimmung vom 20. September 2020 keine Rede mehr sein. Bei einer Stimmbeteiligung von 51% stimmen damals 70% für eine deutliche Verkleinerung des Parlaments. Die Zahl der Sitze im Senat wird von 315 auf 200 und in der Camera von 630 auf 400 reduziert. Die Stimmenden haben der verhassten Politikerkaste mehr als einen Drittel ihrer bequemen Sessel („poltrone“) wegnehmen können und sind der Antipolitik der Cinque Stelle gefolgt. Sie haben die Verringerung der Parlamentarierzahl schon lange auf ihre Fahnen geschrieben und nun zur Bedingung der gemeinsamen Regierung mit dem Partito Democratico gemacht. Dieser stimmt widerwillig, aber notgedrungen zu. Das Argument, dass so die Repräsentanz der Bevölkerung geschwächt, die Position der einzelnen Parlamentarier aber sogar gestärkt werde, stößt auf taube Ohren. Dabei ist allen klar, dass mit der Reform weniger und viel größere Wahlkreise neu gezeichnet werden müssen. Dies könnte die Repräsentanz zusätzlich verfälschen und so die Entfremdung zwischen Bevölkerung und Volksvertretern weiter vertiefen. Um dieser Entwicklung gegenzusteuern, sollte das Wahlgesetz an die neue Situation angepasst werden. Doch auch dieser Hinweis wird in den Wind geschlagen, und der Vorschlag, doch wenigstens das Proporz- gegenüber dem Majorzverfahrens zu stärken, erst recht ignoriert.

Pseudo-Stabilität statt Repräsentanz

Alle Parteien halten also im Wissen darum, dass das Ergebnis der nächsten Wahl erheblich verfälscht werden dürfte, am Rosatellum unverändert fest. Doch warum nehmen sie die nun eingetroffenen Verzerrungen bewusst in Kauf? Weshalb stört sich niemand am damit einhergehenden Legitimationsverlust demokratischer Verfahren? Der bewussten Ignoranz liegt vorab das inzwischen tief verwurzeltes Missverständnis zugrunde, die Funktion von Wahlen bestehe darin, die Regierung zu bestimmen. Tatsächlich wählt das Volk aber seine eigenen Vertreter:innen ins Parlament und bestimmt so die Legislative, nicht die Exekutive. Diese wird erst von jener gebildet, das ist der Kerngedanke der repräsentativen Demokratie. Die Hauptsorge der Parteien in der Volksvertretung gilt der Bildung einer stabilen Regierung, doch genau an dieser Aufgabe scheitern sie seit Jahren. Deshalb schieben sie die Verantwortung ab und beschließen Wahlgesetze, die für klare Mehrheiten schon im Parlament und entsprechend automatisch stabile Regierungsverhältnisse sorgen sollen. Seit 1993 ist das Wahlrecht schon vier Mal geändert worden, doch mit zuletzt drei Regierung in vier Jahren und einer vorzeitig beendeten Legislatur hat sich die gewünschte Stabilität trotzdem nicht eingestellt. Diese hängt auch in Zukunft nicht bloß von der arithmetisch klaren absoluten Mehrheit des Rechtsbündnisses, sondern vom politischen Willen der Partner ab. Zwar ist mit einem raschen Auseinanderbrechen der Koalition nicht zu rechnen, aber sowohl Lega wie Forza Italia können ihr jeweils alleine den Stecker ziehen. Giorgia Melonis Platz ist absolut sicher auf einem Schleudersitz. Der Preis für diese Pseudo-Stabilität ist hoch und wird gleich doppelt bezahlt, indem man die Macht einer rechten Minderheit überlässt, die durch die Verfälschung des Wählerwillens zur Mehrheit wird.

Aussicht Macht blind

Selbst in der Demokratischen Partei scheint man sich weder am fragwürdigen Wahlausgang, den ihm zugrunde liegenden Verzerrungen, ja nicht einmal an der an der eigenen Benachteiligung grundsätzlich zu stören. Die Verantwortlichen scheinen vielmehr darauf gehofft zu haben, selbst von den im Wahlgesetz eingebauten Verfälschungen zu profitieren. Dafür spricht der langwierige Aufbau einer wahlstrategischen Allianz zwischen PD und M5S seit der gemeinsamen Regierungsbildung im Sommer 2019. Damals hat Lega-Chef Matteo Salvini die von Anbeginn konfliktreiche Koalition mit den Cinque Stelle mit der Forderung nach Vollmachten („pieni poteri“) für sich selbst als Innenminister mutwillig aufgekündigt. Matteo Renzi drängt seinen Nachfolger Nicola Zingaretti als PD-Chef nun in eine Regierung mit eben jenen Grillini, mit denen er selbst bis dahin jedwede Kooperation kategorisch ausgeschlossen hat. nur zwei Tage später tritt er mit seinen Getreuen (und zwei PD-Ministerinnen!) aus dem Partito Democratico aus und gründet Italia Viva. Das von ihm wohl erhoffte baldige Zerwürfnis des PD mit den Populisten aber bleibt aus. Stattdessen erzielt die Regierung nach anfänglicher Überforderung in der Corona-Pandemie einen epochalen Erfolg auf EU-Ebene. Ministerpräsident Giuseppe Conte (M5S) und Finanzmister Roberto Gualtieri (PD) sind die Architekten des im Sommer 2020 beschlossenen EU-Wiederaufbaufonds im Umfang von 750 Mia., von denen rund 200 Milliarden für Italien bestimmt sind. Mit dem Duo harmonieren auch die beiden Parteien immer besser, ein Fortdauern der gemeinsamen Regierung bis zum Ende der Legislatur im Frühjahr 2023 wird immer wahrscheinlicher. In der Hoffnung auf einen erfolgreichen Abschluss der gemeinsamen Regierungszeit beginnt man, die bisherige Zweck-Koalition zu einem strategischen Bündnis mit Blick auf die dann anstehenden Wahlen umzubauen. Tatsächlich verspricht die um kleinere Parteien erweiterte Allianz von PD und M5S, unter der Ägide des Rosatellum einen Erdrutschsieg einzufahren, mit dem sich entspannt weiterregieren ließe. Angesichts solch rosiger Aussichten auf die Macht werden demokratietheoretische Skrupel, die Wahl dank Verzerrungen und Verfälschung des Wählerwillens zu gewinnen, beiseite gewischt.

Neoliberale Spielverderber

Doch mit dem Wechsel von der bisherigen Spar- zu einer neuen Investitionspolitik wachsen auch die Verteilungskämpfe darüber, wer vom Geldsegen aus Brüssel profitieren soll. Während die Cinque Stelle Beihilfen an die Bürger:innen und der PD Infrastrukturprojekte der öffentlichen Hand bevorzugen, macht die Wirtschaft mit bedingungslosen Subventionsforderungen unverblümt die hohle Hand. Sie kann den Druck auch deshalb erhöhen, weil die EU-Kommission die Zahlungen von Strukturreformen abhängig macht: Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, Deregulierung des Arbeitsmarktes, Liberalisierung des Wettbewerbs usw. Mit dieser altbekannten neoliberalen Orthodoxie, die sich durch die Hintertür in den Mechanismus des keynesianisch gedachten Wiederaufbaufonds einschleicht, tut sich die italienische Regierung logischerweise schwer. Die Erstellung des geforderten Rahmenprogramms verzögert sich, Kritiker malen die Apokalypse an die Wand: Bei Verzug über die gesetzte Deadline hinaus drohe Italien der Verlust der milliardenschweren EU-Finanzhilfen. Zwar präsentiert die Regierung ihren Entwurf Ende 2020 fristgerecht, doch Anfang 2021 zieht Matteo Renzi die beiden Ministerinnen von Italia Viva zurück und führt so eine mehrwöchige Regierungskrise, den Sturz der Regierung Conte II und die Einsetzung der Regierung Draghi herbei. Der frühere EZB-Banker macht sich nun an die Umsetzung der Forderungen, die er selbst 2011 zusammen mit Jean-Claude Trichet im berühmt-berüchtigten Brief an die italienische Regierung gestellt hatte. Die konkrete Ausgestaltung überlässt er jedoch dem Techniker Daniele Franco, der Roberto Gualtieri als Finanzminister ersetzt. Der langjährige PD-Abgeordnete im EU-Parlament ist inzwischen Bürgermeister von Rom, das als unregierbar gilt.

Technokratisches Politikverständnis

Auch Nicola Zingaretti, der in der Regierungskrise zu Conte gehalten hat, muss als PD-Chef über die Klinge springen und macht Enrico Letta Platz. Der von der Pariser Sorbonne auf die italienische Politbühne zurückkehrende Politikwissenschaftler steht den Grillini distanzierter gegenüber und hält am Bündnis mit ihnen bloß noch aus taktischen und nicht mehr strategischen Gründen fest, geschweige denn aus Überzeugung. Dabei trägt er das Herz zweifellos am humanitären Fleck – 2013 hat er als Regierungschef die Operation Mare Nostrum der italienischen Marine zur Seenotrettung von Bootsflüchtenden ins Leben gerufen. Auch hebt sich der stets ruhig und besonnene sprechende Professor wohltuend von demagogischen Schreihälsen wie Grillo, Salvini oder Meloni ab. Allerdings wirkt er durch seine ostentative Sachlichkeit oft auch leidenschaftslos, ihm scheint das Gespür dafür abzugehen, wann man dem politischen Gegner, der den Machtkampf mit harten Bandagen führt, auch mal etwas emotionaler Paroli bieten muss. Der Grund dafür ist weniger sein vielleicht allzu akademischer Blick auf die deliberative Polis, sondern seine Sicht auf das politische Handwerk als rein technische Problemlösung. Deshalb hält er am Techniker Draghi im Wahlkampf bis zuletzt wie einem Fixstern am politischen Horizont fest, statt eine eigenständige strategische und vor allem programmatische Perspektive für den Partito Democratico zu entwickeln, die darüber hinausweist. Aus einem technokratischen Politikverständnis heraus ist das auch gar nicht nötig – wer politische Visionen hat, muss vielmehr zum Arzt.

Wer Politik ernsthaft als eine rein sachorientierte und rationale Angelegenheit begreift, verkennt jedoch, dass die Technokraten hinter ihrer wertfreien Fassade sehr wohl einer Ideologie folgen. So hält Draghi unbeirrt an seiner neoliberalen Doktrin fest, obwohl die von ihm vorangetriebenen Strukturreformen bei der Bevölkerung extrem unbeliebt sind – insbesondere bei Arbeiterinnen, die ihre Jobs ins Ausland verlieren, und Taxifahrern, die ihre Lizenzen an Uber zu verlieren drohen. Selbst die Gefahr, dass eine Mehrheit der Bevölkerung durch den exorbitanten Anstieg der Energiepreise in wirtschaftliche Not geraten könnte, ficht die marktorientierte Orthodoxie eines Technikers nicht an, der sich keiner Wahl stellen muss. Technokratische Politiker, an denen die wachsende soziale Unrast gleichermaßen abprallt wie an einer Teflonpfanne, werden hingegen an der Urne gnadenlos abgestraft. Der geschlagene Enrico Letta räumt inzwischen ein, die Menschen nicht angesprochen zu haben, die es nicht schaffen („Non abbiamo parlato a chi non ce la fa.“). Er tritt im März 2023 nicht zur Wiederwahl als PD-Chef an, doch ob es der Demokratischen Partei gelingt, sich wieder sozialer zu positionen, ist zumindest fraglich: Die post-ideologischen Technokrat:innen, die in der Partei den Ton angeben, haben sich einer linkeren Ausrichtung bisher stets verweigert.

Demokratie in Agonie

Die Ankündigung „unnachgiebiger“ Opposition ist deshalb reine Rhetorik, zumal die Mehrheitsverhältnisse in Camera (237:163) und Senat (115:85) klar sind. Sie könnten mit den 21 bzw. 9 Stimmen der Liberalen, die ihre punktuelle Zusammenarbeit mit Meloni in Aussicht gestellt haben, sogar noch eindeutiger ausfallen. Es fehlen dann nur 6 bzw. 8 Stimmen von Technokraten und/oder Populisten zur Zweidrittelmehrheit, mit der das Parlament die Verfassung ohne Volksabstimmung ändern kann. Dies gibt durchaus Anlass zu ernster Sorge, zumal die Rechten gewöhnliche Gesetze ja sowieso im Alleingang beschließen können. Doch diese Situation ist keine Überraschung, der haushohe Wahlsieg der Rechten hat sich seit Monaten abgezeichnet. In Italien lässt sich derzeit eine dritte Variante dessen beobachten, was Steven Levitsky und Daniel Ziblatt beschreiben: Manchmal sterben Demokratien nicht mit einem Paukenschlag, ja nicht einmal mit einem Wimmern, sondern lautlos, durch Machtüberlassung. Noch ist die italienische Demokratie nicht tot. Aber sie sollte schleunigst wiederbelebt werden.


[1] Die christlich-konservativen Moderaten im Bündnis verlieren ebenfalls und liegen erstmals unter einem Prozent.
[2] Der TV-Journalist Mario Giordano etwa verunglimpft in seinen seit 1997 praktisch im Jahresrhythmus erscheinenden Bestsellern die Politiker pauschal als Diebe, Betrüger, Blutsauger, Vampire, Aasgeier, Schakale usw.
[3] Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Der Gattopardo, Neuausgabe, München 2004, S. 121.
[4] „Sogno una nazione in cui le persone che per tanti anni hanno dovuto abbassare la testa, facendo magari finta che la pensavano in maniera diversa, sennò sarebbero stati tutti cacciati, possano dire come la pensano e non perdere il posto di lavoro per questo.“
[5] https://www.cortecostituzionale.it/actionSchedaPronuncia.do?anno=2014&numero=1

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