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Gibt Draghi den Hindenburg?

Morgen Mittwoch entscheidet sich, ob die derzeitige Regierung bis Frühjahr 2023 weitermacht oder es schon im Herbst 2022 zu Neuwahlen kommt, die nach allen Prognosen wohl von der extremen Rechten gewonnen werden. Ein Mann hat es in der Hand, Italien vor diesem Albtraum zu bewahren oder das Land den Faschisten zu übergeben: Mario Draghi.

Die Mainstream-Berichterstattung im In- und Ausland ist sich einig: Die Schuld an der letzte Woche mit dem Rücktritt Draghis manifest gewordenen Regierung“krise“ liege allein an den Populisten der Fünf-Sterne-Bewegung und ihrem Chef Giuseppe Conte. Es sei absolut unverantwortlich, das Land allein aus persönlicher Ranküne (Conte musste Draghi Anfang 2021 als Regierungschef weichen) und dem esoterischen Widerstand gegen eine Kehricht-Verbrennungsanlage bei Rom in den Abgrund zu stürzen.

In der Tat haben die Cinque Stelle Draghi zuletzt die Gefolgschaft verweigert und sind den Abstimmungen über ein Hilfspaket über 20 Milliarden Euro in beiden Parlamentskammern ferngeblieben. Trotzdem hat die Regierung beide Abstimmungen mit überwiegenden absoluten Mehrheiten gewonnen. Objektiv gesehen gibt es für den Regierungschef also überhaupt keinen Anlass dafür, das Handtuch zu werfen. Das sieht offenbar auch Staatspräsident Sergio Mattarella so, der Draghis Rücktritt erst einmal abgelehnt hat.

Deshalb muss Super-Mario morgen nun vor dem Senat eine Erklärung abgeben, von der das nähere politische Schicksal Italiens und der Europäischen Union abhängen könnte. Hält Draghi an seinem Rücktritt fest, bleibt Mattarella nämlich fast nichts anderes übrig, als das Parlament aufzulösen und Neuwahlen schon im September oder Oktober 2022 anzusetzen. Aus diesen dürften nach allen Umfragen die Neo-Faschisten der Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni als stärkste Kraft hervorgehen, die zusammen mit der extremen Rechten der Lega von Matteo Salvini und der rechtspopulistischen Forza Italia des politischen Wiedergängers Silvio Berlusconi eine satte Mehrheit in beiden Parlamentskammern gewinnen würden.

Nicht Conte oder Mattarella, sondern Draghi hat es morgen also in der Hand, Italien erst in das hitzige Chaos eines Wahlkampfs zu stürzen und die Macht schließlich den Faschisten zu übertragen. Insofern kommt Super-Mario als Ministerpräsident zwar nicht die institutionelle Rolle, aber die politische Verantwortung des einstigen Reichspräsidenten Hindenburg zu. Es bleibt zu hoffen, dass er sich dessen bewusst ist und seine verletzte politische Eitelkeit als „Opa im Dienste der Institutionen“ (Draghi über Draghi, Dezember 2021) zurückstellt.

Denn darum geht es letztlich: Der Banker hat offensichtlich ein Problem damit, dass die Parteien seiner Krisenregierung der nationalen Einheit mit dem näher rückenden Ende der Legislaturperiode immer lautstarker die Einlösung ihrer Wahlkampfprogramme fordern. Als Manager ist er solche demokratische Kakophonie nicht gewohnt und pocht als alltäglich auf’s Neue medial inszenierter Messias, der allein Italien zu retten weiß, auf unbedingten politischen Gehorsam.

Die italienische Regierung – hier bei ihrer Amtseinsetzung am 13. Februar 2021 – wird in dieser Zusammensetzung wohl schon bald Geschichte sein. Doch mit einem Rücktritt würde Draghi die Macht im Land faktisch den Faschisten übertragen.

Roma – Il Presidente della Repubblica Sergio Mattarella e il Presidente del Consiglio Mario Draghi con il nuovo Governo, oggi 13 febbraio 2021..(Foto di Paolo Giandotti – Ufficio per la Stampa e la Comunicazione della Presidenza della Repubblica)

Wer sich wie Conte erdreistet, darauf hinzuweisen, dass von den gemeinsam vereinbarten Regierungszielen vor allem die von Lega und Forza Italia tatsächlich umgesetzt, jene der Cinque Stelle aber hintangestellt oder sogar über den Haufen geworfen werden, erntet den erzürnten Vorwurf, die Regierung durch Ultimaten zu erpressen. Dabei verkennt Draghi, dass in der liberalen Demokratie jeder politischen Formation das Recht zusteht, ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen, wenn sie ihre politische Agenda in der Regierungspolitik ungenügend berücksichtigt sieht.

Der Konflikt ist also sehr wohl politisch, und die Cinque Stelle haben durchaus Grund, sich zu beklagen. Während mit dem Bürgergeld (eine Art Hartz IV all’italiana) und dem Programm zur energetischen Gebäudesanierung (bei dem es verbreitet zu Missbrauch kommt) zwei ihrer sozial- und umweltpolitischen Steckenpferde auf Druck der politischen Rechten vor der ersatzlosen Streichung stehen, winkt die Regierung großzügige Steuerentlastungen und neue Öl- und Gasbohrungen vor Italiens Mittelmeerküsten durch. Während sich die Fünf-Sterne-Bewegung auf ihr soziales und grünes Gewissen zu besinnen scheint, setzt Draghi seine neoliberalen Strukturreformen als Schock-Strategie (Naomi Klein) im Windschatten von Pandemie und Ukraine-Krieg knallhart um.

Natürlich kommt das in den offiziellen Verlautbarungen stets sehr viel weniger radikal daher, als es eigentlich ist. Der Regierungschef gibt sich jeweils betont konziliant, tadelt aber die Rechte für ihre abenteuerlichen steuerpolitischen Vorhaben (Flat Tax und „Steuerfriede“), mit den sich diese offen als Helfershelfer der Superreichen und Steuerbetrüger zu erkennen gibt, weitaus zurückhaltender. Die einzige Partei, mit der es keine inhaltlichen Reibungspunkte zu geben scheint, ist derzeit die Demokratische von Enrico Letta, der Draghi als einziger unverbrüchlich die Treue hält. Damit droht dem Partito Democratico allerdings eine Wiederholung des Fiaskos von 2013: Damals konnte sie die Wahlen mit einem Programm der sozialen Gerechtigkeit nicht gewinnen, nachdem sie vorher zwei Jahre sämtlichen Sparprogrammen der Regierung von Mario Monti zugestimmt hatte. Stattdessen setzte der Aufstieg der Cinque Stelle ein, die auf Anhieb 25% der Stimmen erzielten.

Nach fünf Jahren Fundamentalopposition konnte die Bewegung des Komikers Beppe Grillo ihren Stimmenanteil 2018 auf fast einen Drittel steigern und trat nun in die Regierungsverantwortung ein – erst mit der rechtsextremen Lega, dann mit der Demokratischen Partei und schließlich in der aktuellen großen Koalition. Den politischen Ton hat über all die Jahre nicht etwa der von außen kommende Jurist Giuseppe Conte angegeben, sondern Luigi Di Maio, der es in fünf Jahren vom unbeschriebenen Blatt zum Aussenminister gebracht hat. Er hat denn auch zuletzt die erste richtige Spaltung der Bewegung gegen Conte angeführt, nachdem in den letzten Jahren immer wieder einzelne Abgeordnete und Senatoren die Fraktion gewechselt hatten.

Nun scheint diese Flurbereinigung abgeschlossen, die sich paradoxerweise gerade an jenem Links-Rechts-Gegensatz orientiert, den die Grillini selbst für überholt betrachten: Di Maio zählt zum rechten Flügel (sein Vater war faschistischer Aktivist) und erklärte sich schon 2018 absolut im Einklang mit Salvini, Conte hat sich nach dem Bruch mit der Lega immer klarer im Mitte-Links-Lager und als Koalitionspartner des Partito Democratico positioniert. Elektoral ausgezahlt hat sich das nicht für die einstige Protestbewegung, die zu rund 60% von enttäuschten Linken, aber eben auch von etwa 40% enttäuschten Rechten gewählt worden ist.

Nach mehreren missglückten Regional- und Lokalwahlen droht den Cinque Stelle nun der Absturz in die politische Bedeutungslosigkeit – in jüngsten Umfragen liegen sie gerade mal noch bei 11%. Contes Versuch, die bereits länger andauernde Hämorrhagie in der Wählergunst durch eine links-grüne Schärfung des inhaltlichen Profils zu stoppen, ist mit der Regierungskrise und dem sie begleitenden medialen Sperrfeuer also klar gescheitert. Dafür scheint die Strategie des neoliberalen politischen Mainstreams aufzugehen: Hat man sich des populistischen Störenfrieds entledigt, kann man die gemäßigte Linke mit dem drohenden Wahlsieg der Faschisten wirksam disziplinieren.

Das wahrscheinlichste Szenario ist deshalb, dass Mario Draghi mit einer Regierung ohne Cinque Stelle weitermacht, wie das Lega und Forza Italia ihrerseits neu zur Bedingung machen. Das würde das Gewicht der Minister der Demokratischen Partei innerhalb der Regierung schwächen und dürfte beim Budget 2023 wie in anderen EU-Ländern dazu führen, dass die Militärausgaben steigen, während bei der Bekämpfung von Pandemie, Klimawandel und sozialen Härten gespart wird. Das sind für die 5,6 Millionen absoluten Armen in Italien (Istat), die von allen gegenwärtigen Krisen überdurchschnittlich hart getroffen werden, keine guten Aussichten. Schlimmer wäre nur, sollte Draghi morgen den Hindenburg geben…

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