Heute ist in Italien Generalstreik. Mit der Arbeitsniederlegung protestieren die beiden Gewerkschaften CGIL und UIL in erster Linie gegen die regressive Steuerreform der Regierung Draghi, mit der hohe Einkommen deutlich entlastet werden, mittlere dagegen fast und tiefe Einkommen komplett leer ausgehen. Die Gewerkschaft CISL unterstützt den heutigen Streik zwar nicht, wird ihre Unzufriedenheit aber am nächsten Samstag mit Kundgebungen ausdrücken.
Spätestens mit dem Streikbeschluss ist das scheinbar gute Einvernehmen zwischen Regierung und Gewerkschaften einer neuen Eiszeit gewichen. Noch im Oktober lagen sich CGIL-Generalsekretär Maurizio Landini und Regierungschef Mario Draghi in den Armen, als letzterer der von gewalttätigen Rechtsextremen und Impfgegnern verwüstete Gewerkschaftszentrale einen durchaus bemerkenswerten Solidaritätsbesuch abstattete. Doch der symbolischen Handlung folgten keine handfesten politischen Taten: Die damals vollmundig angekündigte Auflösung der neo-faschistischen „Forza Nuova“, die den Sturm auf die CGIL-Büros orchestrierte, ist ebenso ausgeblieben wie der ernsthafte Einbezug der Gewerkschaften als Sozialpartner auf Augenhöhe in die Vorbereitungen zum Staatshaushalt 2022.
Zwar haben dazu wie üblich „Konsultationen“ stattgefunden, doch wurden dabei statt der früher über den Tisch gereichten, belastbaren Berichte, nicht einmal mehr bunte Power-Point-Präsentationen vorgeführt: Finanzminister Daniele Franco behandelte die Gewerkschaftsführer mit einem Vorlesungs-Monolog wie Studenten, die sich gefälligst selbst Notizen machen sollen. Die formelle Überheblichkeit passt zur Sache: Anders als von den Gewerkschaften gefordert, kommt der eh schon bescheidene Spielraum von 8 Milliarden Euro bei den Steuern nicht komplett den Lohntüten der Beschäftigten zugute, sondern fließt vollständig in die Taschen der Gutbetuchten (7 Mia.) und Kassen der Unternehmen (1 Mia.).
Das weihnachtliche Steuergeschenk an die Wirtschaft betrifft ausgerechnet die Einnahmequelle, mit der die italienischen Regionen das öffentliche Gesundheitswesen zur Hauptsache finanzieren. Dass man in diesen Bereich nicht vorausschauend investiert, sondern ihm mitten in der Pandemie sogar noch Mittel entzieht, ist insbesondere den Pflegekräften nicht mehr vermittelbar, die sich seit zwei Jahren auf den Intensivstationen abrackern. Ihnen droht als „Dankeschön“ nicht einmal mehr Gratis-Klatschen vom Balkon, sondern die nächste, knallharte Sparrunde. Dass die Gewerkschaften hier ein Stoppschild aufstellen, ist deshalb mehr als verständlich. Mehr noch: Der auf die Steuersenkung erwartbar folgende Austeritäts- und Privatisierungszwang bedroht die Gesundheitsvorsorge der gesamten Bevölkerung.
Die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der vorgesehenen Reform der Einkommenssteuer sind allerdings noch weit gravierender. Sie entlastet in erster Linie Einkommen zwischen 50 000 und 75 000 Euro. Doch nur 6% der Steuerzahlenden deklarieren mehr als 50 000 Euro, der Durchschnitt liegt bei knapp 22 000 Euro, die Entlastung geringer Einkommen ist gleich Null. Es handelt sich also um ein extrem großzügiges Steuergeschenk an die sehr Wohlhabenden, das zudem durch die Reduktion von bisher fünf auf vier Progressionsstufen gewährt werden soll. Kritiker sehen dies als ersten Schritt auf dem Weg zur vollständigen Abschaffung der Steuerprogression und Einführung der „Flat Tax“, dem steuerpolitischen Steckenpferd der italienischen Rechten. Diese hat sich mit dem Wirtschaftsdachverband Confindustria in der Regierung also auf ganzer Linie durchgesetzt, während die Interessen von Gewerkschaften und Beschäftigten ignoriert werden.
Das betrifft nicht bloß die Finanz- und Steuerpolitik. Seit Monaten laufen in ganz Italien Arbeitskämpfe gegen Betriebsschließungen durch multinationale Konzerne, die ihre Produktion in Billiglohnländer verlagern wollen. Landesweiten Symbolcharakter haben insbesondere die ArbeiterInnen des Autozulieferers GKN in Campi Bisenzio bei Florenz erlangt, die ihre von der Schließung bedrohte Fabrik seit August kollektiv besetzen und dabei parteiübergreifende Solidarität erfahren haben (im Bild eine Kundgebung des Fabrikkollektivs GKN). Doch auch in diesem Fall vertieft sich der Graben zwischen symbolischer und tatsächlicher Unterstützung: Während Staatssekretärin Alessandra Todde (Cinque Stelle) wie eine Löwin (aber praktisch auf verlorenem Posten) für eine Lösung kämpft, glänzt ihr Chef, Wirtschaftsminister Giancarlo Giorgetti (Lega), durch Schweigen, Abwesenheit und Nichtstun.
Giorgetti zählt zum neoliberalen Flügel der Lega, der Anfang Jahr gegen den Oppositionskurs Matteo Salvinis erfolgreich auf eine Beteiligung an der Regierung Draghi gedrängt hatte. „Super-Mario“ konnte die Mitwirkung der damals umfragestärksten Partei kaum ablehnen, und so wird Italien seit Mitte Februar 2021 von einer bisher nie da gewesenen „großen Koalition mit Technikern“ regiert. Dabei repräsentieren die von Draghi als Minister beigezogenen Fachleute allerdings ausnahmslos den neoliberalen Mainstream, der seither die Regierung dominiert.
Es würde zu weit führen, an dieser Stelle auf den konkreten Anlass und die näheren Umstände des erzwungenen Regierungswechsels von Anfang 2021 näher einzugehen. Auffällig ist aber, dass der Name Mario Draghi schon lange vor dem Ausbruch der Regierungskrise im Umlauf gewesen ist. Der frühere EZB-Chef ist dann umgehend zum alleinigen Garanten für die ordnungsgemäße Verwendung der rund 200 Milliarden aus dem europäischen Wiederaufbaufonds hochstilisiert worden.
Übersetzt heißt das: Draghi soll dafür sorgen, dass dieses Geld in die richtigen Taschen fließt, will heißen, in die von Unternehmen, Investoren, Kreditgebern usw. durch großzügige Subventionen und Steuersenkungen, und auf keinen Fall in die von einfachen Leuten durch Ausbau von Bürgergeld und Wohlfahrtsstaat. Letzten Endes geht es darum, den durch die Pandemie ins Wanken geratenen Finanzkapitalismus weiterzuführen, „whatever it takes“. Deshalb musste Ministerpräsident Giuseppe Conte (Cinque Stelle) weg – und vor allem der damalige Finanzminister Roberto Gualtieri (Partito Democratico) als eigentlicher Architekt des EU-Wiederaufbaufonds. (Er ist heute Bürgermeister der als unregierbar geltenden Hauptstadt Rom…)
Dass es um die Fortführung des neoliberalen Wirtschaftsmodell geht, wird in letzter Instanz durch den Entwurf für ein neues Wettbewerbsgesetz belegt, den die Regierung Anfang November 2021 vorgestellt hat. Demnach sollen lokale öffentliche Dienstleistungen, namentlich Energieversorgung, ÖPNV, Abfallentsorgung und sogar Gesundheitsvorsorge, endgültig für Märkte geöffnet und dem Wettbewerb ausgesetzt werden. Faktisch werden Gemeinden zur Privatisierung ihrer eigenen Dienste gezwungen, sofern sie nicht nachweisen, dass sie diese selbst besser und vor allem billiger anbieten können als „der Markt“.
Wir erinnern uns: Im Juni 2011 sprachen sich in der Referendumsabstimmung über 95% der ItalienerInnen gegen die Privatisierung der öffentlichen Trinkwasserversorgung aus. Im August 2011 verlangten Jean-Claude Trichet und Mario Draghi als scheidender und kommender EZB-Chef in ihrem berüchtigten Brief an die italienische Regierung, sie müsse endlich die öffentlichen Dienstleistungen privatisieren. 2021 wird Mario Draghi Regierungschef, um diese Privatisierungsmission nach zehn Jahren zu vollenden – im Interesse der Märkte und gegen den Willen des Volkes.
Die Gewerkschaften haben somit allen berechtigten Grund, mit dem heutigen Generalstreik gegen die Steuerreform zu Gunsten der Reichen und gegen die grundsätzliche Ausrichtung der aktuellen Regierungspolitik zu protestieren.
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