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Montefalco Sagrantino (3): Vom Stillstand zum Boom

Geduld brauchten nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Bauern, Grundbesitzer und Kellereien um Montefalco. Der Faschismus hatte mit dem Weinbau auch die weitere Entwicklung des trockenen Sagrantino ausgebremst. In den 1950er-Jahren wurden an den Weinausstellungen in Siena neben einem ein halbes Dutzend Passito noch immer bloß zwei trockene Sagrantino als „vino nero da arrosto“ vorgestellt, also als (dunkler) Rotwein zum Braten und nicht einfach zum Essen („da pasto“).⁠1

Tatsächlich hatte Umbrien in jenen Jahren weit größere Probleme: Die Region belegte in allen sozioökonomischen Ranglisten Italiens die hintersten Plätze. Um der Misere zu entkommen, benötigte Umbrien dringend einen Modernisierungsschub. Eine Katastrophe sollte die unausweichlichen Veränderungen beschleunigen: 1956 erlagen 60-70 Prozent der Olivenbäume bei –20°C dem fünf Tage dauernden Frost. Die Bauern ersetzten ihre Verluste beim Olivenöl kurzfristig durch massiv höhere Produktion minderwertigen Weins. Fünf Jahre später starteten die Behörden das erste Programm zur Förderung des Strukturwandels: Wer die vorherrschende Mischwirtschaft mit Reben, Oliven- und Obstbäumen sowie Getreide und anderen Feldfrüchten auf derselben Fläche aufgab und insbesondere spezialisierte Weinberge mit hochwertigen Traubensorten anlegte, um diese selbst zu bewirtschaften, wurde finanziell großzügig unterstützt. Dadurch sollte sich die rein dem Rebbau gewidmete Fläche bis 1970 um das 14,5-Fache vergrößern.

Allerdings konnten die armen Kleinbauern, die im Schnitt kaum eine Hektar Boden besaßen, solche Investitionen alleine nicht stemmen. Die Behörden förderten deshab ihren Zusammenschluss in Kellereigenossenschaften, die zusammen mit privaten Investoren zu Akteuren des Wandels wurden: 1972 begann die Winzer-Kooperative in Foligno (heute Terre de’ Trinci), trockenen Sagrantino zu erzeugen. Ihr folgten mit dem Möbelhändler Domenico Adanti und dem Textilunternehmer Arnaldo Caprai zwei private Investoren auf dem Fuß. Beide erwarben Flächen bei Bevagna, das schon seit dem 19. Jahrhundert eine guten Ruf für lagerfähige Rotweine besaß („vini rossi di oltre l’anno“). Mit dem Trio begann also in gewisser Weise die jüngere Erfolgsgeschichte des Sagrantino. Aber warum, und weshalb gerade in jenem Moment?

Die Etiketten der Tenuta di Saragano sind traditionell, der Flascheninhalt ist modern. (Bild: Markus Blaser)

Anfang der 1970er-Jahre schlugen Fachleute Alarm: Der Sagrantino wurde vor allem verwendet, um sensorische Unzulänglichkeiten bei Weinen aus Sangiovese und Montepulciano zu überdecken. Da diese dank technischer Fortschritte inzwischen jedoch fehlerfrei vinifiziert werden konnten, drohe der Sagrantino, seine Korrekturfunktion zu verlieren – und zu verschwinden. Dabei sei die Sorte sehr widerstands- und anpassungsfähig, verfüge über großes Potential und verdiene es daher, wiederbelebt zu werden. Suchten die Kellergenossen also nach neuen Absatzkanälen zur Existenzsicherung, ging es dem kapitalkräftigen Bürgertum darum, aus eigenen Reben Spitzenweine zu erzeugen und so den privaten Grundbesitz in den Dienst des allgemeinen wirtschaftlichen Wandels zu stellen.

Die weitere Entwicklung verlief nun schnell, zeitweise sogar stürmisch. 1980 trat das Produktionsreglement für den (erst mal nur roten) Montefalco DOC in Kraft, 1981 wurde des Konsortium gegründet, 1992 wurde dem reinsortigen Sagrantino die DOCG zuerkannt. Nach der Jahrtausendwende setzte ein regelrechter Boom ein: Rund 30 neuen Weinbaubetriebe, fast sechs Mal größere Rebfläche und Vervielfachung der Produktion auf einen Höchststand von sechs Millionen Flaschen, davon knapp ein Drittel Sagrantino (2019).⁠2 Die Pandemie hat diese Euphorie, die auch als überhitzt kritisiert wurde, brüsk gestoppt und eine Konsolidierungsphase eingeläutet, die schon länger erwartet wurde und dem Anbaugebiet gut tun dürfte.

Schließlich leben die Winzer Montefalcos in einem dialektischen Spannungsverhältnis zwischen uralter und extrem junger Weingeschichte: Das älteste Zeugnis von 1088 ist 934, der Montefalco Sagrantino DOCG von 1992 erst 30 Jahre alt. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat denn auch nicht nur neue Weinbaubetriebe entstehen lassen, sondern auch alteingesessene Traditionsbetriebe ziemlich radikal transformiert, wie sich an zwei ganz unterschiedlichen und gerade deshalb vergleichbaren Beispielen zeigen lässt.

Conte Riccardo Pongelli Benedettoni vor zwei seiner größeren Holzfässer im renovierten Weinkeller. (Bild: Markus Blaser)

Die Tenuta di Saragano ist seit dem 13. Jahrhundert im Eigentum der Familie Pongelli Benedettoni, einer der ältesten Adelsdynastien Italiens. Mit seinem Titel hält sich der heutige Besitzer Riccardo allerdings nobel zurück, obwohl er schon der 31. Graf in den Ahnenreihe ist. Dafür macht er aus seiner Leidenschaft für die Landwirtschaft keinen Hehl. Auf den 220 Hektar des Anwesens werden Forst- und Weidewirtschaft (Chianina-Rinder) sowie Acker- und Olivenanbau betrieben. Die zwölf Hektar Weinberge stehen mit 500 Metern über Meer auf den höchsten Lagen und im äußersten Westen des Anbaugebiets von Montefalco. Der Agrarbetrieb ist mit Laufnummer 52 als einer der ersten in Italien schon seit 1994 bio-zertifiziert. Bei dein Weinen wird auf den Ausweis jedoch bewusst verzichtet, sie sollen für sich selbst sprechen.

Herzstück ist die Kellerei, die 1921 unter dem heutigen Wine-Resort entstand, in den 1990er-Jahren auf der anderen Straßenseite neu errichtet und dort während des Lockdowns 2020 komplett erneuert wurde. Außergewöhnlich ist, dass die Sagrantino und Montefalco Rosso eine Zeit der Stabilisierung in einer vor 700 Jahren entdeckten natürlichen Grotte verbringen: bei konstanten 15° C, 92% Luftfeuchtigkeit und weißem Edelschimmel an den Wänden. Anschließend darf sich der Flascheninhalt wieder in einem normalen Keller unter saisonalen Schwankungen weiterentwickeln.

Nach ihrem Wellness-Aufenthalt in der Grotte lagern die Weinflaschen in solchen Kellerregalen auf Sand. (Bild: Markus Blaser)

Wie ein paar erhaltene Exemplare belegen, wurde Sagrantino Passito schon 1921 in Flaschen abgefüllt. 1954 wurde dies auch mit trockenem Sagrantino versucht, doch noch bis in die 1990er-Jahre wurde der Wein fast ausschließlich in großen Glasballons („damigiane“) offen an die lokale Kundschaft verkauft. Qualitativ hochwertige Flaschenweine werden somit erst seit drei Jahrzehnten vermarktet, einen Montefalco Rosso gibt es erst ab 2002, den weißen Montacchiello (100% Grechetto) sogar erst ab 2014. Seit 2013 zeichnet Nachbar Ivan Vincareti als Kellermeister verantwortlich und bringt gleich auch die Sagrantino-Trauben seiner eigenen Weinberge in die Kelter. Trotz der frischen Zusammenarbeit gelingen dem Duo frischfruchtige Weißweine mit schöner Säure und erstaunlich klassische, elegante Rotweine mit sehr feinem Tannin.

Die Sammlung besonderer und rarer Jahrgänge: Im Hintergrund die Erstausgaben des Sagrantino Passito („Vinsanto“ 1921) und Sagrantino trocken (1954). (Bild: Markus Blaser)

Im 2021 eröffneten Bistrot „La Ghirlandina“ kann man die Weine zu köstlichen Speisen aus eigenem Bio-Anbau genießen. Und wer sich an der zauberhaften Landschaft nicht sattsehen kann, bucht entweder ein Zimmer im Wine Resort „La Ghirlanda“ oder mietet eines der in formidable Feriendomizile verwandelten alten Bauernhäuser („Casali“). Doch auch wenn es „nur“ beim Kellerbesuch bleibt: Auf der Tenuta di Saragano erlebt man die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wie an kaum einem anderen Ort.

Das mit rustikalem Flair einladend gestaltete Bistrot „La Ghirlandina“ bietet seit 2021 ausgezeichnete Bio-Küche mit Zutaten vom eigenen Gut. (Bild: Markus Blaser)

Saragano heißt auch die Siedlung gleich nebenan. Die Herkunft des Namens der einstigen Burg ist ungewiss und geht möglicherweise auf den römischen Konsul Lucio Lucinio Sura zurück (Surugana). Riccardo Pongelli Benedettoni ist sich allerdings ziemlich sicher, dass der Wortstamm wie bei Saragossa oder Sarajewo auf die Sarazenen hinweist. Dazu passt seine Version der Namensgebung des Sagrantino, der als Süßwein eigentlich kein Messwein sein konnte wie in der offiziellen Darstellung. Belegt ist, dass Stauferkaiser Friedrich II. (1194-1250) mit seiner Vorliebe für die Falknerei nicht nur Montefalco den Namen gegeben hat („Falkenberg“), sondern dass seine sarazenischen Truppen in der Gegend auch mehrere Lager aufgeschlagen haben, wovon Ortsnamen wie Colle del Saraceno zeugen. Laut Legende soll sich sein persönlicher Falke auf der Jagd verletzt haben. Mönche behandelten ihn mit einer Paste aus den Trauben des Klostergartens und pflegten ihn so wieder gesund. Aus Anerkennung soll Friedrich II. der noch namenlosen Traube das arabische Wort für „Falke“ verliehen haben: alsaqr (الصقر). Damit wäre Sagrantino also der Falkenwein mit arabischen Wurzeln!

Mit dem zweiten Beispiel geht es in der nächsten Folge weiter!

1 Wo nicht anders vermerkt, stammen die historischen Informationen aus Vaquero Piñeiro, Manuel: Umbria. Storia regionale della vite e del vino in Italia. Perugia: Volumnia 2012, S. 237-240.

2 Dati del Consorzio Tutela Vino Montefalco e dell’Umbria [2022].

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