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Montefalco Sagrantino (1): Von Heiligen, Dämonen und Investoren

Wenn Montepulciano schon nicht groß und Montalcino klein ist, wirkt Montefalco geradezu winzig. Doch das Hügelstädtchen im Herzen Umbriens verfügt über einen mächtigen Wein, der in Sachen Tannin, Opulenz und Farbe selbst die imposantesten Supertoskaner übertrifft. Der Sagrantino zieht seit rund drei Jahrzehnten eine wachsende Zahl von Weinfreunden an und überzeugt auch Investoren – nicht bloß mit seiner Kraft, sondern weil er einzigartig ist.

Dabei sind die Ursprünge sowohl des Namens wie der Sorte bis heute nicht restlos geklärt. Nachweislich ist im Hügelland im Südwesten von Foligno schon seit der Antike Weinbau betrieben worden,[1] doch der Name Sagrantino taucht in Dokumenten vergleichsweise spät auf – erstmals 1549 in einer Bestellung von Traubenmost durch den jüdischen Händler Guglielmo aus Trevi. Wahrscheinlich haben Franziskanermönche die Traube im 14. oder 15. Jahrhundert aus Kleinasien nach Montefalco gebracht.[2]

Der Wortstamm weist gleich doppelt auf einen früheren Verwendungszweck hin: als „sacro vino“, heiliger Wein vielleicht für die Messe oder die „sagra“, das (einst religiöse) Volksfest. Es scheint plausibel, dass Sagrantino vor allem bei bei kirchlich-zivilen Feierlichkeiten wie Taufe, Kommunion oder Hochzeit ausgeschenkt wurde und weniger als Messwein. Das könnte auch die verkleinernde Endung („ino“) erklären, die aus dem Sagrantino einen „kleinen Heiligen“ macht, der sich für’s Abendmahl nur bedingt eignet.

Allerdings spielen Traubensorten bei den Weinbezeichnungen bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine untergeordnete Rolle. Wichtiger waren der Weintyp und die Herkunft als Qualitätsmerkmal. Weine aus Montefalco wurden geschätzt, doch alle Indizien deuten darauf hin, dass der Sagrantino bis in die jüngste Zeit praktisch nur als Passito, also in seiner süßen Variante genossen wurde. Darüber hinaus spielte er offenbar in der Weinbereitung eine wichtige Rolle zur Anreicherung mit Aroma, Geschmack und vor allem Farbe.[3]

Der Heilige Franziskus von Assisi sagt den baldigen Tod des Stadtherrn von Celano voraus. Fresko von Benozzo Gozzoli (1450-52), Museumskirche San Francesco, Montefalco (Bild: MB).

Tatsächlich sind Sagrantino-Weine sehr dunkel, meist rubin-violett, manchmal sogar fast schwarz. Der transparent-granatfarbene Wein, den Benozzo Gozzoli 1452 im Freskenzyklus über das Leben des Heiligen Franziskus gemalt hat, ist somit wohl eher kein Sagrantino. Trotzdem ist der Ausschnitt aus dem frühen Meisterwerk des Renaissancekünstlers in der Apsis der Klosterkirche San Francesco in Montefalco weinhistorisch interessant. Im Unterschied zur Darstellung derselben Szene durch Giotto rund 160 Jahre früher in der Basilika von Assisi stehen auf dem Esstisch nämlich nicht Tonkrüge, sondern Glaskaraffen – ein Fortschritt, der die soziale Stellung des Gastgebers unterstreicht und dessen Schicksal noch dramatischer erscheinen lässt: Franziskus sagt dem Stadtherrn von Celano, der ihn zum Mittagsmahl geladen hat, den baldigen Tod voraus (links) und mahnt ihn zur Beichte (ganz rechts vorne), wonach der Adlige plötzlich stirbt (rechts hinten). Der Luxus einer fürstlich gedeckten Tafel schützt auch die Reichen nicht vor dem Tod – so die Botschaft des Armenpredigers.

Die war jedoch nicht gegen Montefalco und seinen Wein gerichtet, im Gegenteil. Gleich neben der Sterbeszene zeigt ein weiteres Fresko gleich zwei Momente aus dem Leben des Heiligen, die im Anbaugebiet des Sagrantino spielen: Links predigt Franziskus bei Bevagna (im Hintergrund) zu den Vögeln, rechts segnet er Montefalco (am Wappen auf der Stadtmauer erkennbar), während vor ihm Bischof Marcus, Prior Fra Jacopo Macthioli als Auftraggeber Gozzolis sowie zwei mutmaßliche Mäzene des Klosters aus der Familie Calvi knien.[4]

Der Heilige Franziskus von Assisi predigt den Vögeln und segnet Montefalco. Fresko von Benozzo Gozzoli (1450-52), Museumskirche San Francesco, Montefalco (Bild: MB).

Dies verweist auf die große Bedeutung von Kirche und adligen Unternehmerdynastien für soziales Leben, Politik und Ökonomie, also auch für Landwirtschaft und Weinbau in der Gegend. Dabei spielten Fremde und Heimkehrer oft eine wichtigere Rolle als Einheimische. Selbst sein Name wurde Montefalco von einem Durchreisenden verpasst: Um 1250 taufte Friedrich II. das Hügelstädtchen Coccorone kurzerhand in „Falkenberg“ um – angeblich weil er hier seinem Hobby der Falknerei frönte. Allerding sind die Jagdvögel im Laufe der Jahrhunderte praktisch ausgestorben; erst seit der Aussetzung eines Turmfalkenpärchens 2007 wächst die Population wieder.

Hundert Jahre nach dem Stauferkaiser sollte ein Spanier die Geschichte Montefalcos entscheidend beeinflussen. Ob Kardinal Egidio Albornoz die (Rück)eroberung des Kirchenstaates ab 1353 tatsächlich von hier aus begann, ist zwar fraglich. Sicher ist hingegen, dass sie erfolgreich war. 1439 übergaben die Einwohner Montefalcos dem Kommandanten der päpstlichen Armee, Kardinal Giovanni Vitelleschi, mehr oder weniger freiwillig die Schlüssel zur Stadt – nicht zuletzt, um sich der unerträglich gewordenen Herrschaft der Trinci von Foligno zu entziehen.[5] Bis zur italienischen Einigung 1861 gehört Montefalco wie ganz Umbrien nun zum Kirchenstaat, untersteht also der weltlichen Herrschaft des Papstes.

Das hatte Vor- und Nachteile. Politisch war die Oberherrschaft der römischen Kurie weit weg und ließ den lokalen Adelsdynastien durchaus Raum zu relativ friedlicher Entwicklung – an die Stelle blutiger Fehden trat die am Tiber ausgehandelte Aufteilung von Herrschaft. Ökonomisch kam es hingegen zu Stagnation, weil Rom vor allem an den Steuereinnahmen aus den entlegeneren Gebieten des Kirchenstaates und nicht an deren Erzeugnissen interessiert war. Im Unterschied zur Toskana wurde umbrischer Wein (Ausnahme: Orvieto) kaum exportiert, sondern über Jahrhunderte fast ausschließlich lokal konsumiert, wobei die Steuern auf Weinausschank besonders hoch waren: 1587 lagen sie in Perugia mit 4300 Scudi an dritter Stelle der kommunalen Bilanz.[6]

Was unter diesen Bedingungen am meisten litt, war die Weinqualität. Wiederholt beklagen Beobachter zu hohe Erträge der Reben, mangelnde Sorgfalt im Keller entsprechend einfache bis schwer genießbare Weine. Davon gibt es allerdings mehr als genug, was auf die Preise drückt. Wein ist in der Frühen Neuzeit ein Grundnahrungsmittel, da Energielieferant, und so ist der Konsum auf Baustellen besonders groß.[7] Die Auswirkungen dieser Massenweinerzeugung sind jedoch langfristig und strukturell negativ. „Der in Umbrien am meisten vernachlässigte Anbau ist jener der Weinreben“, hält die von Senator Stefano Jacini geleitete Agrarkommission des italienischen Parlaments 1884 unmissverständlich fest.[8]

Im vereinigten, liberal-konservativ geprägten Italien ist inzwischen ein Bewusstsein für technisch-wirtschaftlichen entstanden, zumindest in einem Teil der Führungsschicht. In der seit 1875 tätigen ampelografischen Kommission Umbriens erarbeiten Adlige, Professoren und Juristen die Grundlagen für einen modernen Weinbau. Die Beschreibung des Sagrantino von 1879 ist wohl die erste dieser Rebsorte überhaupt und stammt wohl von Reben der Güter des Fürsten Ugo Boncompagni-Ludovisi. Dieser lässt 1884 bei Montefalco eine große, moderne Kellerei errichten – just in der Nähe des Ortes, wo einst ein Exorzist einer jungen Frau lokalen Wein eingeflößt und so den Teufel ausgetrieben haben soll: Scacciadiavoli.

Diese Mischung aus katholischer Tradition, einer Prise schauriger Esoterik und önologischer Technologie hätten sich heutige Marketingstrategen kaum besser ausdenken können. Ein Schluck vom „kleinen“ Heiligen Sagrantino vertreibt die Dämonen – sprich lästige Gedanken – aus dem Kopf: Besser kann Werbung im Zeitalter der Gothic Novel kaum funktionieren. Dabei besitzt die Sache einen ernsten Hintergrund, denn es sind die „großen“ Heiligen, die in Montefalcos Klosterkirche San Francesco das Böse besiegen: Im Fresko von Benozzo Gozzoli befreit Franziskus von Assisi die Stadt Arezzo von den Dämonen, im Fresko von Jacopo Zabolino di Vinciolo entweicht der Teufel aus dem Mund eines jungen Mannes dank Antonius von Padua – zwar ohne Wein, aber mit zupackender Hilfe eines Ordensbruders.[9]

Der Heilige Franziskus von Assisi befreit Arezzo von den Dämonen. Fresko von Benozzo Gozzoli (1450-52), Museumskirche San Francesco, Montefalco (Bild: MB).
Der Heilige Antonius von Padua treibt den Teuefl aus. Fresko von Jacopo Zabolino di Vinciolo (Ausschnitt, 1. Hälfte 15. Jahrhundert), Museumskirche San Francesco, Montefalco (Bild: MB).

Das Scacciadiavoli-Investment des Fürsten Ugo ist ein Paradebeispiel dafür, dass Katholizismus und Kapitalismus im Königreich Italien kein Gegensatz sein musste. Die Boncompagni-Ludovisi sind eine noch heute bestehende und besonders illustre Adelsdynastie, die ursprünglich aus Assisi stammt, aber in Bologna und vor allem Rom in die höchsten Ämter aufsteigt: 1572 wird Ugo Boncompagni zum Papst gewählt. Gregor XIII. lässt sich von wissenschaftlichen Erkenntnissen überzeugen und führt 1582 den nach ihm benannten und immer noch gültigen gregorianischen Kalender ein. Zugleich nutzt er seine Amtszeit erfolgreich, um durch seinen noch vor Antritt der kirchlichen Laufbahn geborenen Sohn Giacomo eine Feudalherrschaft für die Familie aufzubauen.

Giacomo und seine Nachkommen sammeln über die Jahrhunderte allerdings nicht bloss Ländereien und Adelstitel, sondern betätigen sich als Kulturmäzene und Industrielle. So gehört beispielsweise durch Heirat mit Ippolita Ludovisi das Fürstentum Piombino mit seinen Eisenerzminen auf der Insel Elba im 18. Jahrhundert zum weit verzweigten Familienunternehmen. Der in Montefalco tätige Ugo ist allerdings nur noch formeller Principe, da Piombino auf dem Wiener Kongress 1815 dem Großherzogtum Toskana zugeschlagen wurde.

1856 in Rom geboren, betätigt sich Ugo Boncompagni-Ludovisi in jungen Jahren als Aktivist der katholischen Bewegung, die eine national-konservative Partei gründen will. Das ist gewagt, denn Papst Pius IX. untersagt 1874 den Katholiken jedwede politische Betätigung im italienischen Nationalstaat. Als Vizepräsident der Unione romana gehört Ugo 1888 zu den Mitunterzeichnern eines Aufrufs zur Aufhebung dieses Verbots verlangt wird. 1892, nach dem Tod seiner zweiten Frau, gibt er seinem Leben eine radikale Wende: Er verzichtet zugunsten seines Sohnes Francesco auf alle Adelstitel, wird 1895 zum Priester geweiht, macht Karriere an der Kurie und stirbt 1935 in Rom.[10]

Und Scacciadiavoli? Der Rückzug des Principe hat der Kellerei offenbar nicht geschadet. Was er hier geschaffen hat, sollte von Dauer sein, wie seine Initialen zeigen, die jede der tragenden Säulen aus Gusseisen im Innern zieren. Auch die Weinproduktion ist seit 1884 angeblich nie unterbrochen worden, jedenfalls soweit die aktuelle Besitzerfamilie Pambuffetti weiß. Im zarten Alter von 71 Jahren konnte Amilcare Pambuffetti 1954 mit Scacciadiavoli just jenes Weingut erwerben, wo er schon als 14jähriger in die Lehre gegangen war. Seit einigen Jahren ist die vierte Generation am Steuer und führt das historisch und technologische Erbe der ältesten modernen Kellerei Montefalcos fort.[11]

Initialen von Ugo Boncompagni (ohne das L für Ludovisi) in der Kellerei Scacciadiavoli, Montefalco (Bild: MB).
Modernste Temperaturkontrolle der Gärtanks in der Kellerei Scacciadiavoli, Montefalco (Bild: MB).

Dabei helfen sowohl die elektronische Temperaturkontrolle von heute wie die Nutzung der Schwerkraft von damals: Fürst Ugo hatte die gesamte Anlage vertikal angelegt, mit der Traubenanlieferung am höchsten Punkt, darunter den Pressen direkt über den Gärtanks, aus denen der frisch vergorene Wein direkt in die Fässer darunter abgezogen werden konnte. Obwohl der Wein auf diese Weise möglichst wenig bewegt werden musste, waren auch elektrische Umfüllpumpen und sogar Dampfreiniger vorhanden. Die Produktionskapazität erreichte bis zu 3500 Hektoliter, das entspricht mehr als 450’000 Flaschen! Die verarbeiteten Trauben stammten von über 100 Hektar eigenen Weinbergen.[12] Zum Vergleich: Heute erzeugen die Pambufetti auf Scacciadiavoli von 40 Hektar Rebfläche rund 250’000 Flaschen.[13]

Nicht nur die Kellerei, sondern auch die Weine des Principe wurden in den höchsten Tönen gelobt. Schon 1879 heimste er an der Gewerbeausstellung in Perugia mit dem Rotwein „Timia“ eine Silbermedaille ein, und die Weine von Scacciadiavoli wurden nach Deutschland, in die USA und bis nach Japan exportiert. Kellermeister Carlo Toni führte die technischen Innovation auch nach dem Ausscheiden des Fürsten aus der Betriebsleitung weiter und installierte um 1900 zwei verglaste Zementtanks mit zusammen 1000 Hektoliter Fassungsvermögen, die noch heute in Betrieb sind.[14]

Der um 1900 eingebaute Zementtank der Cantina Scacciadiavoli ist noch immer in Gebrauch (Bild: MB).

Nach dem Ersten Weltkrieg erwirbt der ligurische Anwalt und Senator Vittorio Rolandi Ricci Kellerei und Weinberge von Scacciadiavoli – und macht da weiter, wo Boncompagni Ludovisi aufgehört hat: bei der Innovation. An der Weinausstellung, die im September 1925 in Montefalco stattfindet, präsentiert er zum ersten Mal trockenen Sagrantino.[15] Damit erreicht der weinhistorische Aufstieg Montefalcos seinen vorläufig ersten Höhepunkt – und bricht kurz darauf unter der faschistischen Agrarpolitik abrupt ab.

Fortsetzung folgt!


[1] Nessi, Silvestro: La coltivazione della vite e la produzione di vino a Montefalco attraverso i secoli. Montefalco: Comune di Montefalco 2004.
Vaquero Piñeiro, Manuel: Umbria. Storia regionale della vite e del vino in Italia. Perugia: Volumnia 2012.
[2] Disciplinare di produzione della denominazione di origine controllata e garantita „Montefalco Sagrantino“. Mipaaf 2014, S. 8.
[3] Vaquero Piñeiro 2012, S. 63-66; Disciplinare 2014, S. 8.
[4] https://sites.google.com/site/variedarte/ciclo-di-san-francesco-a-montefalco
[5] https://www.stradadelsagrantino.it/informazioni-generali-montefalco.php
[6] Vaquero Piñeiro 2012, S. 77.
[7] Vaquero Piñeiro 2012, S. 66.
[8] „La più trascurata delle coltivazioni nell’Umbria è quella delle viti.“ Zitiert nach Vaquero Piñeiro 2012, S. 96.
[9] https://www.montefalco.it/chiesa-di-san-francesco/
[10] Malgeri, Franceso: Boncompagni Ludovisi, Ugo. In: Dizionario Biografico degli Italiani, Vol. 11, 1969 (https://www.treccani.it/enciclopedia/ugo-boncompagni-ludovisi_(Dizionario-Biografico)/)
https://www.boncompagniludovisi.com/albero_bl.html
https://www.angelfire.com/realm/gotha/gotha/boncompagni.html
https://asv.vatican.va/content/archiviosegretovaticano/it/attivita/ricerca-e-conservazione/progetti/inventariazione/archivio-boncompagni-ludovisi.html
[11] https://www.cantinascacciadiavoli.it/chi-siamo/
[12] Vaquero Piñeiro 2012, S. 136-138.
[13] https://www.cantinascacciadiavoli.it/chi-siamo/
[14] Vaquero Piñeiro 2012, S. 140, 160.
[15] Vaquero Piñeiro 2012, S. 173-175.

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