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„Schräge Vögel“ aus dem Herzen des Chianti

An einem lauschigen Nachmittag fahren meine Partnerin Elisa Pestelli, unser Freund Pierpaolo Chelo und ich vom betriebsamen Florenz hinaus aufs Land und hinein ins Chianti. Nach wenigen Kilometern verlassen wir die Superstrada nach Siena hinauf nach San Donato in Poggio. Kurz hinter Pietracupa, genau in der scharfen Linkskurve der Straße nach Castellina in Chianti, folgen wir einem Waldweg hinunter – und stehen unverhofft vor dem Tor unseres Ziels: Podere Erica.

Der Weiler Olena von Podere Erica aus gesehen (Bild MB)

Mit dem Tor eröffnet sich uns eine andere Welt, wir scheinen in eine andere Zeit einzutreten. Der Blick fällt auf das gegenüber liegende, pittoreske Olena. Der Weiler mit der Pfarrkirche San Pietro wird als „Aulena“ bereits im Jahre 998 in einer Schenkungsurkunde des Markgrafen Ugo erwähnt. Das Gebiet gehört zur Gemeinde Barberino Val d’Elsa, im Mittelalter eines der südlichsten Bollwerke der Stadt Florenz an der Grenze zum Einflussbereich der Stadt Siena. Das von Siena im 15. Jahrhundert zum eigenen Schutz errichtete Castello della Paneretta liegt nur unweit entfernt. Aus dieser Gegend stammt auch eine der später mächtigsten Familien Italiens: Die sich nach ihrer Herkunft nennenden Barberini stellten im 17. Jahrhundert mit Urban VIII. einen der am längsten amtierenden Päpste.

Ob Podere Erica einst den Barberini gehörte, wissen wir nicht – vermutlich war es in kirchlichem Besitz. Auch vom vergangenen kriegerischen Säbelrasseln ist längst nichts mehr zu hören, der Ort ist voll Ruhe und Abgeschiedenheit. Nur das Räuscheln des Windes ist zu hören, dann und wann zwitschert ein Vogel, flötet ein anderer. Die friedliche Stimmung legt sich kurz nach Frühlingsanfang wie Balsam auf unsere Seelen. Hier können gestresste Städter offensichtlich von ihrer Hektik genesen – wohl deshalb lassen sie sich den Aufenthalt auf Podere Erica eine schöne Stange Geld kosten.

Podere Erica erscheint noch heute als bescheidender Bauernhof, ist aber zur komfortablen Villa umgebaut (Bild MB)

Die kalifornische Besitzerfamilie Dempsey hat das einst bescheidene Bauernhaus (italienisch: Podere) nämlich in eine stilvolle Villa mit Pool verwandelt, die selbst höchsten Ansprüchen genügt. Mutter Jan berichtet in ihrem Blog „Accidental Italian“ über den Erwerb und die Renovierung des Anwesens, dem sie und ihr Mann Neal den Namen ihrer Tochter verliehen. Heather Dempsey feierte hier auch die Hochzeit mit ihrem italienischen Mann Massimo Mallamace. Seit 2009 betreiben sie einen Handel mit antiken und handgefertigten Möbeln aus Italien (Fatto a Mano).

Im selben Jahr boten sie die Verwaltung von Podere Erica dem jungen Önologen Marco Giordano an, der damals auf dem Chianti-Classico-Weingut Poggio al Sole tätig war. Vor Ort sind die Dempseys selbst nämlich nur wenige Wochen im Jahr. In der übrigen Zeit schaut Marco zum Rechten, kümmert sich um Weinberg, Wiese, Wald und den Olivenhain. Dass ihm die Eigentümer dabei völlig freie Hand lassen, ist nicht selbstverständlich. Nicht zuletzt deshalb hat Marco Giordano diese Chance gepackt. Pierpaolo Chelo steht ihm als Fachmann für Weinexport und -marketing zur Seite – dank ihm werden die beiden Rotweine seit Kurzem im legendären Ristorante Cibreo in Florenz kredenzt.

Marco Giordano und Pierpaolo Chelo im Weinkeller von Podere Erica (Bild MB)

Die Lage von Podere Erica auf etwa 370 Meter über Meer bietet sich für den Weinbau geradezu an. Gleich angrenzend liegen unterhalb von Olena einige Weinberge von Isole e Olena, weitere renommierte Chianti-Classico-Weingüter liegen nur einen Katzensprung entfernt. Trotzdem erzeugt Marco Giordano hier „nur“ Toscana IGT. Reben stehen nämlich nur auf einem der etwa 15 Hektar von Podere Erica, die Pflanzung eines zweiten Hektars ist geplant.

Dafür braucht es heute eine amtliche Bewilligung, die nicht einfach zu bekommen ist. Denn die Behörden haben über die Entwicklung des Produktionspotenzials zu wachen, um Überproduktion zu vermeiden. Um mehr als ein Prozent pro Jahr darf Europas Rebfläche deshalb nicht wachsen. Die Chancen, einen neuen Rebberg anlegen zu dürfen, sind mit dem heutigen System jedoch besser als noch vor wenigen Jahren. Damals mussten sogenannte Pflanzrechte erworben werden, die zuweilen in spekulativer Absicht gehortet wurden und daher je nach Anbaugebiet und Verfügbarkeit ziemlich teuer sein konnten.

Für den alten, unproduktiv gewordenen Rebberg von Podere Erica mussten jedoch Pflanzrechte erworben werden, um ihn erneuern zu können, zumal er im Rebkataster fehlte. Dabei fiel die Entscheidung zu Gunsten der erschwinglicheren Toscana IGT aus – auch, weil der wiederkehrende Zertifizierungsaufwand für Chianti Classico DOCG in keinem vernünftigen Verhältnis zur bescheidenen Anbaufläche stünde.

Schon kurz nach Frühlingsanfang treiben die Reben aus – ein alljährliches Wunder der Natur (Bild MB)

Die beiden Rotweine, die Marco Giordano auf Podere Erica erzeugt, brauchen sich neben einem echten Chianti Classico jedoch nicht zu verstecken. „La Ghiandaia“ (Eichelhäher) besteht ganz traditionell aus 70% Sangiovese und 30% Canaiolo, wird aber ganz modern nicht in Holz ausgebaut, sondern reift in Edelstahl- und unverglasten (!) Zementtanks. Seine markante Säure macht den Wein frisch und stellt seine waldbeerigen Fruchtnoten heraus, ohne dass es ihm am sortentypischen Traubentannin mangelte. Ich ziehe ihn dem ambitionierteren „Il Picchio“ (Specht) vor, der als 100%-iger Sangiovese naturgemäß strukturierter daherkommt, aber einen Teil seiner 18-monatigen Reifezeit auch in Tonneaux aus neuer französischer Eiche verbringt. So richtig spürbar ist der Holzeinsatz allerdings nur in den ersten Minuten nach Öffnen der Flasche und weicht dank der ebenfalls frischen Säure immer mehr hinter den sich langsam entwickelnden Fruchtaromen zurück.

Trotz der unbestreitbaren Qualität seiner beiden „schrägen Vögel“ ist Marco Giordano überzeugt, dass er ihr Potenzial noch bei Weitem nicht ausgeschöpft hat. So wünscht er sich statt der drei kleineren ein einziges großes Holzfass. Solange das noch fehlt, kommen die neusten Picchio-Jahrgänge (wir haben 2014 verkostet) in die bereits gebrauchten Tonneaux, um den Holzeinfluss zu mildern. Daneben experimentiert er mit Amphoren und erzeugt sogar einen für die Toskana eher ungewohnten süßen Moscato, dessen Trauben zuvor draußen während 40 Tagen auf Strohmatten angetrocknet werden. Auf die Verkostung dieser mit 150 Kleinflaschen in homöopathischen Dosen erzeugten Spezialität mussten wir jedoch verständlicherweise verzichten. Viel mehr als 5000 Flaschen gibt der Weinberg aufgrund der bewusst tief gehaltenen Erträge ohnehin nicht her.

Die beiden „schrägen Vögel von Podere Erica sind nach Eichelhäher und Specht benannt (Bild MB)

Dies erklärt teilweise die für IGT-Weine (sieht man von den „Supertoskanern“ ab) eher stolzen Ab-Hof-Preise von 14 (La Ghiandaia) bzw. 21 Euro (Il Picchio), die sich allerdings durchaus auf dem Preisniveau der umliegenden Chianti Classico bewegen. Darüber hinaus arbeitet Marco Giordano in Weinberg und Keller nach biodynamischen Grundsätzen, will den Wein also so natürlich wie möglich erzeugen. Er spricht selbst von „Naturwein“ und wehrt sich dagegen, dass der Begriff von manchen als billige Ausrede für fehlerhafte Weine in Misskredit gebracht wird. Wein natürlich erzeugen heißt eben gerade nicht, ihn einfach sich selbst zu überlassen, sondern erfordert mehr Arbeit, Sorgfalt und Aufmerksamkeit.

Das schlägt sich in höheren Produktionskosten nieder, zahlt sich aber auch einem entsprechenden Mehrwert für den Weinfreund aus. So werden zum Beispiel die Rotweine mit höchstens 60 mg/l schwefliger Säure haltbar gemacht, was deutlich unter den Grenzwerten für konventionelle (150 mg/l) und selbst für Bioweine (100 mg/l) liegt. Podere Erica befindet sich in Umstellung, 2017 soll der erste Jahrgang mit Bio-Zertifizierung werden. Marco engagiert sich auch in einem Komitee, das in der Gegend um Barberino Val d’Elsa einen sogenannten Bio-Distrikt schaffen möchte. Dafür müssen die ansäßigen Landwirtschaftsbetriebe nach und nach auf Bio-Anbau umstellen, was einige Überzeugungsarbeit kosten wird.

An klaren Visionen fehlt es auf Podere Erica also nicht, und auch an kreativen Ideen herrscht kein Mangel. So könnten im neuen Weinberg dereinst auch Malvasia-nera-Rebstöcke stehen, von einer kleinen Schweine- und Hühnerzucht ist ebenfalls die Rede. Wir könnten die Unterhaltung noch lange fortsetzen, doch inzwischen hat sich die Dunkelheit über Podere Erica gelegt. Wir blicken zum bezaubernden nächtlichen Sternenhimmel und genießen noch einmal die Ruhe, die nun beinahe etwas Magisches hat. Spätestens jetzt, da wir die Rückfahrt nach Florenz unter die Räder nehmen müssen, wird uns klar: Es lohnt sich, dieses Kleinod im Herzen des Chianti im Auge zu behalten.

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