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Europas schönste Seiten? In Florenz!

Es ist der 6. Mai 2017, ein Tag vor der für Europa bedeutsamen Stichwahl zum französischen Präsidentenamt. Die dunklen Wolken am Himmel versprechen nichts Gutes, als meine Partnerin Elisa Pestelli und ich durch ein Tor in der via Faentina im Norden von Florenz treten. Nur Minuten später treffen uns auch schon die ersten Regentropfen auf der Zypressenallee, die durch den Park hinauf zur Villa Salviati führt.

Hier sind seit 2012 die Historischen Archive der Europäischen Union (HAEU) untergebracht, die heute ihre Pforten  dem allgemeinen Publikum öffnen. Außer dem Park und den Archivräumen kann nach mehrjähriger Restaurierung erstmals auch die Villa selbst teilweise besichtigt werden. Sie beherbergt seit August 2016 auch die Departemente für Rechts- und Historische Wissenschaften des Europäischen Hochschulinstituts (EUI).

Die Villa Salviati ist ein weiteres architektonisches Schmuckstück im EUI-Campus, der vor allem aus ehrwürdigen Gebäuden aus der Zeit der Renaissance besteht – darunter die Badia Fiesolana oder die Villa Schifanoia (nicht zufällig an der via Boccaccio gelegen!). Wer hier studieren darf, muss aufpassen, dass er seine Zeit nicht mit dem atemberaubenden Blick auf Fresken und Landschaft „vertrödelt“… Umgekehrt stiftet die vermeintliche Ablenkung der zauberhaften Umgebung aber offenbar fruchtbare Anreize  zum erfolgreichen Studienabschluss: Das EUI gehört zu Europas wissenschaftlicher Champions League.

Zur Elite zählte auch die einstige Besitzerfamilie Salviati, der die Villa nicht nur ihren Namen, sondern auch die bauliche Entwicklung vom 15. bis zum Ende des 18. Jahrhundert verdankt. Einen Eindruck davon bekommen wir nach etwas gar langer Wartezeit unter dem Regen. Begleitet von einer Kunsthistorikerin des Vereins Città Nascosta können wir einen Raum mit Muschelornamenten sowie die Kapelle mit den Wappen der gleich mehrfach miteinander verschwägerten Familien Salviati und Medici an der Decke besichtigen. Ebenso eindrücklich ist die künstliche Grotte, in die sich die vornehme Gesellschaft vor allzu großer Hitze ebenso wie vor allzu strenger Etikette flüchten konnte.

Muscheln schmücken einen Raum in der Villa Salviati (Foto MB)
Die Wappen der berühmten Florentiner Patrizierfamilien Salviati (links rot-weiß) und Medici (rechts mit einer blauen und fünf roten Kugeln) an der Decke der Kapelle in der Villa Salviati (Foto MB)
Detail aus der Grotte unter der Orangerie der Villa Salviati (Bild MB)

Unweit neben der Grotte werden wir an einem modernen Eingang von einer Archivarin in Empfang genommen. Sie führt uns durch die unterirdischen Gänge dessen, was mir – nicht nur wegen der roten Schränke – als historisches Herz der Europäischen Union erscheint. Nicht weniger als elf Kilometer Akten finden hier ihren Platz, 6300 Laufmeter davon sind bereits belegt. Neben den Dokumenten von EU-Institutionen wie Kommission, Rat, Parlament, Gericht usw. finden sich hier auch Nachlässe bedeutender europäischer Persönlichkeiten wie beispielsweise Altiero Spinelli oder Jacques Delors sowie die Archive anderer europäischer Organisationen wie der EFTA oder (pro-)europäischer Bewegungen.

Das historische Herz Europas schlägt in diesen modernen roten Schränken: Hier lagern die Akten der Europäischen Union und Dokumente zum europäischen Eingungsprozess (Bild MB)

In Florenz liegen somit praktisch alle wichtigen Dokumente des europäischen Einigungsprozesses. Das HAEU soll sie aber nicht nur hüten und fachgerecht aufbewahren, sondern stellt sie – in der Regel nach Ablauf von 30 Jahren – der Forschung zur Verfügung. Dabei ist der Zugang sehr frei geregelt: Grundsätzlich kann nämlich jeder die Archiv- und Bibliotheksbestände des HAEU konsultieren.

Europa zeigt sich in der Villa Salviati also buchstäblich von seinen schönsten Seiten. Dazu trägt nicht zuletzt auch das reichhaltige Kinder- und Kulturprogramm bei, das am alljährlichen „Open Day“ geboten wird. So schaffen wir es nach absolvierter Archivführung, einen Platz im zu kleinen Saal zu ergattern, in den das Konzert des über 70-köpfigen Jugendorchesters Cupiditas plus EUI-Chor wetterbedingt verlegt werden musste. Was unsere Ohren hier von frühneuzeitlichen Gesängen Brumels und Brauharts über Haydn und Wagner bis zu Gershwins Rhapsody in blue hören dürfen, ist ein akustisches Europa-Panorama vom Feinsten, für das es zu Recht stehende Ovationen gibt.

Beifall gibt es am nächsten Tag auch für den neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der nicht etwa von der Marseillaise begleitet, sondern zu den Klängen der Ode „An die Freude“ aus Ludwig van Beethovens neunter Sinfonie vor seine Anhänger im Hof des Louvres tritt. Dass der frisch gewählte höchste Franzose für diesen Moment statt der National- die Europahymne wählt, ist als symbolpolitische Botschaft kaum zu überschätzen. Ob es Macron gelingen wird, mit seiner eigenen Europabegeisterung selbst Europaskeptiker anzustecken? Wenn er die neoliberale wirtschaftspolitische Agenda der letzten Jahre weiter unbeirrt mit Hilfe spardiktatorischer EU-Troikas durchziehen will, wird es schwer. Doch wenn er es schafft, dass sich die Institutionen der Europäischen Union öfter so offen, generös und bürgernah zeigen wie in der Villa Salviati, dann hat er eine Chance.

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